Werner Michael Stichnoth

„Kaskade“

Kaskade

Kaskade

Bettina Zastrow malt. Sie malt anders.
Eigentlich malt sie mit dem Raum, der zwischen den Farben existiert.

Ganz besonders wird das in diesem neuen Werk von Bettina Zastrow spürbar (dessen Titel mir beim Schreiben dieser Zeilen noch nicht bekannt ist). Will der Betrachter den Gehalt des Bildes erfassen, muss er aufhören zu betrachten. Er muss sich einlassen auf das Bild, auf den Raum, der aus dem Bild wächst, der den Menschen, welcher als Betrachter gekommen, in das Bild hineinzieht wie ein Strudel.

Stehe ich vor einem mir noch unbekannten Werk Bettina Zastrows, nähere ich mich der Leinwand deshalb sehr vorsichtig, in kleinen, langsamen Schritten. Mit jedem Zentimeter des Näherkommens wird die Tiefe, wird der Raum konkreter.

Von Weitem waren die gelben Linien noch Linien. Jetzt, im Näherkommen, werden sie lebendig, scheinen sich zu bewegen, verlieren ihre Klarheit, werden organisch. Und mit einem Mal entdeckt man: jede dieser Linien ist individuell.
Manche sind gerader als andere, eine strahlt in hellem Gelb fast leuchtend hervor, andere sind zwar gelb, aber doch nicht.
Und die eine, die strahlende? Auch sie ist nicht makellos, zum Glück.

Und plötzlich beginnt der Raum zwischen den Linien lebendig zu werden. Sind es denn überhaupt die Linien, die in mir ein Bild, eine Assoziation wachrufen? Oder sind sie nur die Begrenzungen, die etwas anderes, etwas Neues eröffnen?
Etwa wie der Grundriss eines Hauses, bei dem der Raum auch erst durch die begrenzenden Linien entsteht.

Aber nein, der Raum ist tiefer, dreidimensional. Oder mehr? Mindestens vier, fünf Dimensionen.
Beinahe hätte ich sie missachtet, diese acht mehr oder weniger gelben Körper, die mir hier begegnen. Jedes dieser acht Symbole besitzt eine Eigenart, ist individuell, eigenständig.
Und begegnen sie wirklich mir? Sie scheinen sich einander zu begegnen, vier Paare, die vorsichtig Kontakt aufnehmen, sich zaghaft beschnuppern, die langsam näher rücken, sich zu berühren suchen.
Und dabei doch in ihrer Individualität bestehen bleiben, sich nicht aufgeben, sich nicht verlieren in der Zweisamkeit.

Noch bevor ich mich entschließen kann, eine solche Interpretation als gültig, als richtig in mein Denken zu betonieren, taucht das nächste Fragezeichen in meinem Kopf auf: Vielleicht sehe ich hier auch acht Finger? Die längeren Finger (ohne die Daumen) von zwei Händen, die gerade dabei sind, sich in einander zu verschränken. Falten sich zwei Hände zum Gebet? Oder entgleiten die Hände einander, verlieren sich? Wie ein Kind, das die schützende Hand der Mutter, des Vaters loslässt. Wie ein ehedem Liebender, der sich nach neuen, anderen Lieben sehnt.

Nein, auch das kann nicht die Antwort auf die großen Fragezeichen in meinem Kopf sein. Zu eng ist die Beziehung zwischen diesen gelben Körpern, je vier und je zwei. Zu greifbar ist das unsichtbare Band, das Bettina Zastrow in ihrer so eigenen Sprache hier erscheinen lässt. Gerade diese Spannung zwischen den Körpern ist es, die dem Kunstwerk eine so tiefe Bedeutsamkeit verleiht. Hier greift eines ins andere, wie Zahnräder, die aber keine Zahnräder sind. Keine runden Körper, die nur dazu da sind, sich unaufhörlich zu drehen und mit ihrer Drehung Arbeit zu verrichten. Was sich hier auf einander zubewegt, ist frei.

Diese Innigkeit der Beziehung, die zugleich die Freiheit der Individuen nicht nur geschehen lässt, sondern sich selbst sogar zum Ziel gesetzt hat, ist sie etwa das, was Bettina Zastrow ausdrücken will? Kann dieses Bild gar als Metapher für die Liebe gelten, weit entfernt von rosaroten Herzchen?

Ich kann, ja ich will diese Frage nicht beantworten. Sobald ich auch nur den Ansatz einer Antwort in meinem Denken aufkommen lasse, drängt sich eine neue Idee, eine neue Sichtweise, ein neuer Blickwinkel nach vorne.
Dieses Bild lebt. Und mit jedem neuen Gedanken eröffnet sich eine neue Facette. Genauso kann ich mir nur wünschen, dass mein eigenes Leben immer bleiben möge: immer wieder neu, immer wieder spannend, mit jedem gelebten Tag reicher.
Lasst uns also weitergehen, auf einander zu, lasst uns weiter uns begegnen, uns selbst und den anderen, lasst uns wachsen und werden. So wie ein Atom nur aus der Spannung elektrisch geladener Teilchen heraus existiert, leben wir aus der Energie unserer Beziehungen. Zu uns selbst, zu den Mitmenschen, zur Welt.

Werner Michael Stichnoth, Mai 2012